D. Keeling: The Business of Migration

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Titel
The Business of Transatlantic Migration between Europe and the United States, 1900–1914. Mass migration as a transnational business in long distance travel


Autor(en)
Keeling, Drew
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Tobias Brinkmann, Department of History/Parkes Institute, University of Southampton

Die Geschichte der Massenwanderung aus verschiedenen Regionen in Europa nach Nordamerika im langen 19. Jahrhundert ist weitgehend erforscht. In den 1970er und 1980er Jahren entstand eine Reihe von «transatlantischen» Arbeiten, welche die Ergebnisse zahlreicher Auswanderungs- und Einwanderungsstudien zusammenführten und über den Tellerrand der nationalen und ethnischen Paradigmas hinausblickten. Zu nennen ist hier etwa das von Dirk Hoerder entwickelte Projekt über transatlantische Arbeitsmigration. Das Projekt demonstrierte die Grenzen der Begriffe «Ein-» und «Auswanderung», die in erster Linie auf staatlichen Kategorien basieren. Der Begriff Migration beschreibt die Offenheit von Wanderungsprozessen besser: Ein nicht geringer Teil der europäischen Aus- bzw. Einwanderer kehrte nach einigen Monaten oder Jahren in ihre Heimat zurück, kleinere Gruppen migrierten in Drittländer. Die transatlantische Perspektive zeigt auch die engen Zusammenhänge zwischen Migration und wirtschaftlichen Transformationsprozessen in verschiedenen Regionen Europas und Nordamerikas auf.

Die Studie des Wirtschaftshistorikers Drew Keeling beleuchtet zwei wesentliche, kaum untersuchte Aspekte der transatlantischen Massenmigration: die Geschichte der Atlantiküberquerung und die Geschäftspolitik der grossen Schifffahrtsgesellschaften zwischen 1900 und 1914. Auf welchen Routen fuhren Migranten in die Neue Welt? Warum entschieden sie sich für oder gegen bestimmte Schifffahrtsgesellschaften (und deren Häfen)? Wie gestaltete sich die Konkurrenz zwischen den Schifffahrtsgesellschaften und welche Rolle spielte der Preis für die Schiffspassage? Wer organisierte die Reise zum und vom Hafen? Wie erlebten «normale» Passagiere die Reise und welche Handlungsspielräume besassen sie? Diese von Keeling thematisierten Fragen haben nur wenige Autoren aus einer übergreifenden Perspektive erörtert, etwa Lamar Cecil in seiner Albert- Ballin-Biographie (1967) oder Erich Murken in seiner Studie über die Geschäftspolitik der grossen Schifffahrtsgesellschaften (1922).

Viele Passagiere der Schifffahrtsgesellschaften auf dem Weg nach oder von Nordamerika bewegten sich nach 1820 buchstäblich über die scheinbar festgefügten Grenzen der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen, indem sie durch verschiedene Transitländer reisten: insbesondere durch Deutschland und Grossbritannien, aber auch Schweden, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Frankreich, die Schweiz und Kanada. Die meisten Migrationshistoriker interessier(t)en sich für Menschen, die sich dauerhaft ansiedelten oder ihre Heimat verliessen, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht für Durchwanderer. Abgesehen von Bildbänden, einigen Ausstellungskatalogen, populärwissenschaftlichen Darstellungen (etwa über den Untergang der Titanic 1912) und publizierten Memoiren ist erstaunlich wenig über die Geschichte der grossen Schifffahrtslinien bekannt, über ihre Geschäftspolitik, ihren politischen Einfluss und über die von ihnen massgeblich beeinflussten Reiserouten von Millionen von Amerikamigranten (und Rückwanderern) in und jenseits von Europa. Keelings differenzierte Arbeit, die auf Beständen in mehr als einem Dutzend Archive in Europa und Nordamerika basiert, schliesst daher eine wichtige Lücke.

Die sorgfältig recherchierte Studie behandelt vor allem die Konkurrenz und Kooperation der grossen Schifffahrtsgesellschaften. Die sieben chronologisch angelegten Kapitel konzentrieren sich auf die vier bedeutendsten Schifffahrtsgesellschaften: die Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG), den Norddeutschen Lloyd (Bremen), die White Star Linie (Liverpool) und die Cunard Linie (Liverpool). Die Dominanz der deutschen und britischen Linien resultierte teilweise aus der starken Amerikawanderung Mitte des 19. Jahrhunderts: vor 1880 kamen 90% aller Amerikawanderer aus Grossbritannien (und Irland) und aus deutschsprachigen Regionen in Mitteleuropa. Keeling kann zeigen, dass die schwankenden Ticketpreise keinen nennenswerten Einfluss auf die Migration hatten. Die These, dass die Schifffahrtsgesellschaften Migranten absurd überhöhte Preise abverlangten ist ebenso verkürzt wie die Annahme, dass die Schifffahrtsgesellschaften Migranten zur Auswanderung verleitet hätten. Vielmehr, so plädiert Keeling auf Basis einer längerfristig angelegten Analyse, mussten sich die Schifffahrtsgesellschaften gegen wirtschaftliche Risiken wappnen. Um Phasen geringerer Auslastungen während zyklischer Rezessionen durchzustehen, mussten sie in Zeiten starker Auslastung höhere Preise verlangen und Kapitalreserven aufbauen. Diese langfristig angelegte Strategie hatte auch für Migranten wichtige Vorteile: Sie konnten sich auf regelmässigen Service auf komfortablen und sicheren Schiffen verlassen.

Keeling präsentiert und diskutiert umfangreiches Datenmaterial zur Zahl (und Herkunft) der Passagiere und zum Umsatz der Schifffahrtsgesellschaften. Ausführlich erörtert er die Verbesserung der Sicherheitsstandards und des Komforts für Passagiere in der einfachsten Klasse. Er thematisiert auch die Reise zu und von Häfen in Europa und Nordamerika sowie die Lobbytätigkeit der Schifffahrtsgesellschaften gegen eine Verschärfung der Ein- und Durchwanderungspolitik in verschiedenen Staaten. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die fragile Kooperation der Schifffahrtsgesellschaften. Preisabsprachen waren legal, aber niemals von langer Dauer. Keeling widmet dem grossen Preiskampf von 1904 ein eigenes Kapitel, auch um zu belegen, dass die deutlich reduzierten Ticketpreise alleine nicht die hohe Migration aus den vom Preiskampf betroffenen Regionen in diesem Jahr erklären. Die Studie reflektiert den neuesten Stand der Forschung in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, der historischen Migrationsforschung und der Schifffahrtsgeschichte. Das Literaturverzeichnis der Arbeit ist besonders wertvoll, weil hier neuere und nur Spezialisten bekannte historische Titel aufgeführt sind.

Zitierweise:
Tobias Brinkmann: Rezension zu: Drew Keeling, The Business of Migration between Europe and the United States, 1900–1914, Zürich: Chronos Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 530-531.